2. Teil: Aussprache

Manche Leute sagen, Estnisch wäre eine "singende Sprache".
Warum? Mal schauen, ob wir es bis zum Schluss dieses Kapitels
ergründen können.

Wie schon erwähnt, werden estnische Buchstaben in etwa wie
deutsche gesprochen. Wenn Sie nun wichtige Wörter lernen,
um sie in Estland anwenden zu können, werden Sie möglicher-
weise auch verstanden - je nach Phantasie, Übung und Talent
Ihres Gegenübers. Esten, die keine Fremdsprache gelernt haben,
können allerdings auch sehr unflexibel auf Ihre Aussprache rea-
gieren, was bedeutet, sie verstehen überhaupt nichts von dem,
was Sie so mühevoll gelernt haben.


Das estnische Alphabet

A B D E F G H I J K L M N O P R S T U V Õ Ä Ö Ü

Die estnische Sprache kommt mit relativ wenigen Buchstaben aus.
Aus X wird im Estnischen ein KS, aus Z ein TS, so dass diese Buch-
staben im estnischen Alphabet keine Rolle spielen; das uns gewohnte
Alphabet endet hier also bei "V".
Die drei uns vertrauten Umlaute Ä, Ö und Ü sind im estnischen Alpha-
bet im Gegensatz zu unserem richtige Buchstaben.
Das "Õ" ist ein sehr eigener estnischer Buchstabe und so interessant,
dass er in einem speziellen Kapitel (Kapitel 9) behandelt wird.
Da es im Estnischen keine CH- oder SCH-Laute gibt, findet man bei
manchen Fremdwörtern den Š-Buchstaben; er ist aber recht selten
(z. B. šokolaad, šokk).

Hinweis: Forscht man in Suchmaschinen nach dem estnischen Alphabet,
findet man verschiedene Varianten bei der Auflistung; von meiner o. a.
Möglichkeit (dieses beschränkt sich auf die rein estnischen Buchstaben)
bis zur Auflistung aller möglichen Buchstaben, die in der estnischen
Sprache (inkl. Fremdwörter) vorkommen können - bis zu 32!



Die Aussprache der Buchstaben

Obgleich uns die estnischen Buchstaben in ihrer Aussprache
vertraut sind, sollte man wissen, dass auch diese nicht ganz
genau wie unsere deutschen Buchstaben ausgesprochen werden.
So klingt das T für unsere Ohren so manches Mal wie ein D, da
es im Estnischen sehr weich ausgesprochen wird.
In manchen Wörtern klingt das A schon fast wie ein O wie
"kahju" (= schade) oder "kaheksa" (= acht)
Ich stelle die Buchstaben in ihren leichten Abwandlungen vor;
zu beachten ist jedoch, dass die Buchstaben nicht bei jedem Wort
genau gleich ausgesprochen werden.

A........ etwas zum O
E........ oft stark zum Ä
Ä/ÄÄ... bei diesem Wort geht der Mund eines Esten etwas weiter auf
............als bei unserem Ä, es geht hier mehr in Richtung unseres
............Buchstabens A
ÖÖ......oft hört es sich an wie das U beim engl. Wort "hurt"
ÜÜ.......ein kleines bisschen in Richtung "i"
R........ ist wie das bayerische R gerollt
V.........wird wie ein W gesprochen

K, P und T..werden am Wortanfang weich ausgesprochen (also fast wie
G, B und D)


Die Betonung

Grundsätzlich - und das ist für Ausländer daher auch sehr ein-
fach - wird die erste Silbe eines Wortes betont; Ausnahmen bil-
den oft lediglich ausländische Wörter (z. B. Ameerika).
Bei zusammengesetzten Hauptwörtern, werden beide Wörter
in der ersten Silbe betont, beim zweiten Wort allerdings nicht
ganz so stark.

Beispiel: Holzhaus - puumaja (Holz - puu, Haus - maja)

Bei zusammengesetzten Wörtern, die eben durch diese Zusam-
mensetzung einen anderen Sinn ergeben, wird nur die erste
Silbe betont.

Beispiel: gutstellen (darauf bedacht sein, bei jemandem nicht
..............................negativ aufzufallen)
.............gut stellen (einen Gegenstand vernünftig plazieren)

Ob die Reformierung der deutschen Rechtschreibung diese
sinnvolle Unterscheidung aufgehoben hat, weiß ich leider nicht.
In der estnischen Rechtschreibung gibt es sie jedenfalls zum
Glück noch.



Doppelvokale

Während es im Deutschen verschiedene Möglichkeiten gibt,
einen Vokal als lang zu kennzeichnen (z. B. malen, Mahl, Paar),
ist es im Estnischen viel einfacher: Soll ein Vokal kurz gespro-
chen werden, wird er eben nur einfach geschrieben
(z. B. sama = gleich), soll er lang gesprochen werden, wird
doppelt geschrieben (z. B. saama = bekommen)


Doppelkonsonanten

Bei Doppelkonsonanten gibt es einen entscheidenden Unter-
schied zur deutschen Aussprache: Während im Deutschen
ein Doppelkonsonant darauf hinweist, wie kurz der Vokal davor
ausgesprochen wird, muss der Doppelkonsonant im Estnischen
tatsächlich auch lang gesprochen werden.
=> Beispiel: hallitus - Schimmel
Das Doppel-M bei "Schimmel" weist darauf hin, dass das "i"
davor kurz ausgesprochen wird, im estnischen Wort "hallitus"
hat das Doppel-L keinerlei Auswirkung auf das "A" davor; es
wird sowieso kurz ausgesprochen, weil ja nur einfach vorhanden.
Dafür wird das Doppel-L in der Praxis tatsächlich in doppelter
Länge ausgesprochen. Für Deutsche ist es sehr ungewohnt,
beim Lesen und Reden stets darauf zu achten.



Die 3 "Dauern" (3 väldet)

Nicht nur der einfache oder doppelte Konsonant oder Vokal be-
stimmt, wie lang man diesen ausspricht. Zusätzlich gibt es drei ver-
schiedene Längen, die wichtig, manchmal gar entscheidend für den
Kontext sind.
In der ersten werden die einzelnen Buchstaben mit kurzer Dauer ge-
sprochen, die zweite Dauer geht schon etwas länger, die dritte noch
länger bis beliebig lang.
Hier noch einige Erklärungen und Beispiele:


1. Dauer (kurz)

Die 1. Dauer findet man in Worten ohne Doppelkonsonant oder -vokal,
sofern sich keiner der "harten" Buchstaben T, P oder K darin befindet,
z. B. segama (stören/mischen), lina (Laken), padi (Kissen).
Alle Vokale werden gleichkurz gesprochen.
Hinweis: Da im Estnischen fast immer die erste Silbe in einem Wort be-
tont wird, würden wir Deutschen dazu neigen, diese auch länger
auszusprechen. In der 1. Dauer wäre es aber falsch, so dass wir
uns umstellen und darauf achten müssen, alle Silben wirklich
gleichlang auszusprechen. Dies ist sehr wichtig, weil es sonst zu
Missverständnissen führen kann!
=> So kann "padi" (Kissen) zu einem "paadi" (Boot; gebeugt) werden,
da letzeres in 2. Dauer, also länger gesprochen wird.



2. Dauer (mittel)

Wie schon erwähnt werden Wörter mit den "harten" Buchstaben T, P und
K sowie Wörter mit Doppelkonsonanten oder -vokalen immer mindestens
in der 2. Dauer gesprochen (einsilbige Wörter sind in diesen Fällen immer
dritter Dauer).
Allerdings ist zu beachten, dass diese Wörter auch in der 3. Dauer ge-
sprochen werden können, was wiederum vom Kontext abhängt.

=> Beispiel: Das Wort linn (= Stadt) ist von 3. Dauer, da es einsilbig ist.
Wird es in einem bestimmten Kontext gebeugt, muss das Doppel-N in
zweiter Dauer ausgesprochen werden.
Hier sehen sie verschiedenen Möglichkeiten:

2. Dauer:
Ich bin in der Nähe der Stadt - ma olen linna läheduses
Ich bin in der Stadt - ma olen linnas

3. Dauer:
Stadt - linn

Ich gehe in die Stadt - ma lähen linna



3. Dauer (lang)

Einsilbige Wörter werden immer in dritter Dauer ausgesprochen.
Wie schon erwähnt muss bei Wörtern mit Doppelvokalen und -konsonanten
zwischen 2. und 3. Dauer unterschieden werden, was wiederum vom Kon-
text abhängt. Dies ist sehr wichtig, da ein Wort zwei verschiedene Bedeu-
tungen haben kann; unterschieden werden können diese Wörter eben nur
anhand der Aussprache.

Beispiel: saada - das Doppel-A in 2. Dauer ausgesprochen bedeutet "sende",
lang, also in 3. Dauer, heißt es "bekommen"
--------> Saada mulle kiri (sende mir den Brief) = 2. Dauer
--------> Ma tahan kirja saada (ich möchte den Brief erhalten) = 3. Dauer

Anderes Beispiel:
--------> Taevas (der Himmel) = 2. Dauer des "AE" (als eine Silbe gesprochen)
--------> Taevas (im Himmel) = 3. Dauer

Sprechen Sie "AE" also zu lang oder zu kurz, kann ein völlig anderer Sinn
entstehen!
Natürlich ist es für den Ausländer sehr schwer, die richtige Länge zu treffen,
aber nicht unmöglich. Da die Schwierigkeiten vor allem in der 2. Länge ent-
stehen, sei hier als Hilfestellung darauf hingewiesen, dass in einem zweisil-
brigen Wort wie der schon genannte "Himmel" (Taevas) beide Silben exakt
gleichlang ausgesprochen werden.



Palatalisierungen

Auch diese sind in der estnischen Sprache wichtig und auch oft entschei-
dend, für uns Deutsche aber unheimlich schwer auszusprechen und an
den richtigen Stellen zu berücksichtigen.
In der Estnischen Aussprache gibt es neben den gewöhnlichen (tavalised)
Buchstaben "L", "N" und "S" dieselbigen in Palatalisierungen.
Dabei muss der Zungenrücken nach oben in Richtung Gaumen gehen.
Während das palatalisierte L genau wie das deutsche L ausgesprochen
wird, klingt es bei den Buchstaben N und S etwa so, als stünde unmittelbar
vor diesen jeweils ein "j" oder ein "i".
Beispiele für Wörter mit palatalisierten Buchstaben:
  • polt - Bolzen
  • kallis - teuer, Schatz
  • tund - Stunde
  • vann - Wanne
  • vastik - eklig
  • kass - Katze

Die Mehrheit der estnischen Wörter besteht aus nichtpalatalisierten
Buchstaben wie zum Beispiel:
  • pool - halb
  • alles - vorhin
  • onu - Onkel
  • konn - Frosch
  • rasvane - fett
  • kassa - Kasse

Ob und welche Wörter palatalisiert werden, muss auswendig gelernt
werden; es gibt leider keine Regeln dafür.
Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung lässt sich an Wörtern mit dop-
pelten Bedeutungen erkennen, die nur anhand einer Palatalisierung
unterschieden werden können, wie zum Beispiel:
  • palk (L palatalisiert) = Holzbalken
  • palk (L nichtpalatalisiert) = Gehalt



Persönliche Ansicht

Estnisch empfinde ich als eine sehr effektive Sprache, da die Sätze mit
wenigen Wörtern und die Wörter mit wenigen Buchstaben auskom-
men. Ein Satz wie "das glaube ich nicht" wird im Estnischen mit einem
schnellen "ei usu" übersetzt.
Die Folge davon ist jedoch, dass diese Sprache auf die erwähnten Längen
und Palatalisierungen angewiesen ist, um die recht kurzen Wörter der
estnischen Sprache besser unterscheiden zu können.
Neben der Grammatik mit 14 Deklinationen sind genau das die Schwie-
rigkeiten, mit denen Ausländer, die Estnisch sprechen wollen, zu kämpfen
haben.
Wer also in seinem Estnisch von einem Esten nicht verstanden wird, ob-
wohl er von sich selbst den Eindruck einer verständlichen Aussprache
hat, sollte überlegen, ob die Längen und Palatalisierungen alle richtig wa-
ren.
Zudem erleben Esten sehr selten, dass sie von einem Ausländer auf
Estnisch angesprochen werden, was natürlich zu einer gewissen "Unflexi-
bilität" beim Verstehen führt, weil sie diese Sprache einfach nur von ihren
Landsleuten gewöhnt sind.
Das soll allerdings nicht entmutigen, denn es gibt zahlreiche deutsch-
sprachige Esten im Lande, die wissen, wie ein Deutscher die Buchstaben
ausspricht und sich ganz gut darauf einstellen können, diese in ihrer
Landessprache zu hören. Da sie wissen, dass ein Deutscher ganz sicher
noch nie etwas von estnischen Palatalisierungen und Längen gehört hat,
stellen sie sich automatisch (mehr oder weniger) auch darauf ein.

Wer Estnisch professionell lernen möchte, muss in seinen Unterricht
also auch Hör- und Sprechproben einbauen, idealerweise natürlich mit
einem Esten als Lehrer (= õpetaja).
Hier finden Sie Schulen in Deutschland, in denen Sie Estnisch lernen
können.
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